Ein Offener Brief der Netzwerkstelle, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit im Wrangelkiez
Liebe Nachbar*innen,
für mich als Mitarbeiter*in der Netzwerkstelle/des Kiezankers und auch für viele andere Menschen, die im Wrangelkiez leben, arbeiten oder einfach regelmäßig vor Ort sind, ist dieser Kiez mehr als ein Zuhause, ein Arbeitsort oder sozialer Bezugspunkt. Er ist ein Symbol, ein Versprechen, eine Möglichkeit: Hier kann, hier darf ich sein – Gesellschaft suchend oder eben auch in Ruhe gelassen. Hier finde ich Platz. Und am Wichtigsten: die anderen auch! Es gibt unterschiedliche Bezugsgruppen, die Bandbreite ist groß, wer will findet Anschluss, wer nicht findet im Notfall trotzdem jemanden, der zur Seite steht.
Ein Kreuzberger Vertrag – kein Ponyhof:
Woran liegt das?
Jedenfalls nicht daran, dass jede, die in den Wrangelkiez kommt, Teil einer bunten, harmonischen Familie namens Vielfalt wird und auch nicht daran, dass Menschen hier einfach irgendwie entspannter sind oder es hier schöner finden als andernorts, wenn sie Leuten begegnen, die ganz anders als sie selbst sind. Wie überall anders auch, weckt das Ganz-Anders-Sein bestenfalls eine gewisse Neugier, wirkt oft irritierend und leider im schlechteren Fall angsteinflößend. Genau so ist das auch im Wrangelkiez. Wie vielerorts in Berlin und anderen Großstädten ist jeder Quadratmeter umkämpft, es gibt sehr unterschiedliche Interessen, die auf kleinem Raum oft auch gegeneinander stehen. Das betrifft den Wohnraum genauso wie den Gewerberaum, den öffentlichen Straßenraum ebenso wie die Grünflächen und Plätze. Das gilt im Görli genauso wie in der Cuvrystraße. Und je höher der Verdrängungsdruck, je größer der eigene Stress, desto weniger Kraft bleibt übrig, um diejenigen, die ganz anders sind, die sich im öffentlichen Raum auffallend oder ungewohnt verhalten, noch gut auszuhalten und vielleicht sogar zu unterstützen.
Warum halten es dann hier so viele verschiedene Menschen miteinander aus?
Weil der Wrangelkiez ein Ort mit vielen Räumen des Koexistierens ist. Die Betonung liegt auf dem funktionierenden Nebeneinander, flankiert von der Kreuzberger Eigenheit, dieses Nebeneinander gegen diejenigen, die es bedrohen, vehement zu verteidigen (oft erfolgreich). Dabei stehen wir dann auch mit denen, die ganz anders, als wir selbst sind, eng zusammen, damit die Vielen nicht zu Gunsten Einzelner oder zu Gunsten der Kapitalanlage Einzelner weg müssen.
Und indem viele Leute im Wrangelkiez einen guten Teil dazu beitragen, dass die Akzeptanz von unterschiedlichen Verhaltensweise hoch und gut erprobt ist und vergleichsweise strapazierfähig bleibt, wird das Koexistieren täglich am Laufen gehalten. Dabei bleibt es aber ein zerbrechliches System. Und dieses System wird gerade überfordert.
Was ist gerade anders?
Seit einigen Monaten gibt es im Wrangelkiez Personen (laut Beobachtungen von Einrichtungen seit Beginn des Jahres eine neue Gruppen von 10 bis 15 Personen am Durchgang von der Cuvry- zur Falckensteinstraße), die den grundlegenden nachbarschaftlichen Vertrag, die Voraussetzung des Koexistierens regelmäßig erheblich stören, und die nachbarschaftliche Vereinbarung – leben und leben lassen – mit ihrem Handeln immer wieder nicht achten. Sie nehmen Straßen und Plätze, verschiedene Orte im Kiez so ein, dass andere Menschen keinen Platz mehr finden, sogar Angst haben, sie zu passieren.
Dadurch wird das Gefüge der Nachbarschaft ebenso strapaziert wie durch Investor*innen, die sich massiv Raum aneignen, ihn zur Geldanlage machen und Wohn- und Gewerbemietende verdrängen. Wenn Einzelne oder Gruppen die Koexistenz-Räume für viele andere komplett verschließen, sie ihnen unzugänglich machen, dann ist es berechtigt zu fragen: was können wir tun? Und hier lohnt es sich auf die Kreuzberger Eigenheit zurückzukommen: Das Nebeneinander gemeinsam zu schützen.
Weiter lohnt es sich, einander daran zu erinnern, welche Strategien, welche Vorgehensweisen gut funktioniert haben – im Leben wie in den Kreuzberger Kämpfen. Zu lernen war, dass vor allem anderen, ein erster und enorm wichtiger Schritt immer ist, nochmal nachzufragen, die Ursachen verstehen zu wollen, vermeintlich Feststehendes in Frage zu stellen, es genauer wissen zu wollen, um dann auch etwas tun zu können, und zwar etwas, das hilft. Es gilt, dies gemeinsam mit anderen und auf mehreren Ebenen zu tun.
Um handlungsfähig zu werden und Solidarität herzustellen, ist die Kenntnis über das Wer, Wie und Warum ein guter erster Schritt. Genauso wie es sich lohnt zu wissen, welche*r Eigentümer*in oder welcher Investment-Fonds mich aus meiner Wohnung oder meinem Ladenraum schmeißen will, lohnt es sich immer erst einmal Fragen zu stellen: Was passiert hier genau? Wer und vor allem warum handeln die Personen so? Was kann Schritt für Schritt getan werden? Was braucht es sofort, welche mittel- und langfristigen Strategien sind nötig?
Und dann geht es darum, mit der Kraft der Vielen echte Lösungen zu finden und von den verantwortlichen Stellen im Bezirk sinnvolles Handeln einzufordern.
Was können wir tun?
Um dieses gemeinsame und sinnvolle Handeln voran zu bringen, lohnt es sich mit verschiedenen Menschen zu sprechen, es lohnt sich die verschiedenen Einschätzungen zu hören und immer wieder die Frage nach den Ursachen zu stellen und diese Ursachen anzugehen, statt die Symptome mittels Verdrängung zu behandeln.
Dazu wollen wir am 22.06.2020 19 Uhr im Kiezanker-Garten miteinander reden, einander zuhören, genauer nachfragen und hinschauen, gemeinsam überlegen und die nächsten Schritte besprechen.
Zum Schluss noch ein paar Vorschläge:
Was wird sofort gebraucht? Öffentlich zugängliche Toiletten und Waschmöglichkeiten, regelmäßige Straßensozialarbeit und Gesundheitsversorgung.
Was braucht es außerdem? Genauer hinschauen und die vielen Faktoren verstehen und wo nötig skandalisieren, die zu dieser Situation geführt haben:
- vom Verdrängungseffekt aus dem Görlitzer Park
- über den polizeilichen Fokus auf Menschen mit schwarzer Hautfarbe beim Ahnden von Drogendelikten (racial profiling)
- bis hin zu fehlenden personellen und finanzielle Ressourcen sowie Abstimmungen zwischen unterschiedlichen Ämtern und deren Handlungsstrategien.
Mittelfristig brauchen die Einrichtungen und Akteure vor Ort die nötigen Handlungsaufträge und dementsprechende Ressourcen.
Langfristig und parallel zu jedem Vorgehen, geht es darum die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern, damit Wohnen, Gesundheitsversorgung und soziale Teilhabe für alle, an jedem Ort und immer zugänglich sind.