Solidarisches Netzwerk von Nachbarschaft und Gewerbetreibenden in Berlin-Kreuzberg

Gespräch mit Stefan Matthias zum Thema “Obdachlosigkeit und Konflikte im Wrangelkiez. Was hilft?”

Die Konflikte im öffentlichen Raum im Wrangelkiez spitzen sich weiter zu. Nach dem zweiten Nachbarschaft-Austausch zu diesem Thema im Kiezanker 36 vom 03.08.2020 ist klar: die psychische Belastungsgrenze der Anwohnenden ist erreicht. Ein Aushang von Anwohnenden aus der Cuvrystraße ließ andere Nachbar*innen erschrocken aufhorchen. Aus den Formulierungen wird klar: wir, die direkten Anwohner*innen der Cuvrystraße, können nicht mehr! Es reicht uns! 

Was ist los im Wrangelkiez?
Wie kommt es zu dieser eskalativen Situation? 
Wie können die (Nutzungs-)Konflikte im öffentlichen Raum verstanden und eingeordnet werden,
und was hilft? 


Dazu hat Nada Bretfeld (Netzwerkstelle und Stadtteilarbeit im Wrangelkiez) ein Interview mit Stefan Matthias geführt. Der ehemalige Pfarrer der Taborkirche ist seit über 30 Jahren in der Obdach-Arbeit im Wrangelkiez aktiv und unterstützt den aktuellen Prozess u.a. mit der Moderation der Nachbarschaftstreffen.











Im Gespräch zeigt er auf, welche Entwicklungen den Wrangelkiez in den letzten 30 Jahren kennzeichnen und wie es aus seiner Sicht zur Überlastung der Nachbarschaft gekommen ist.

Seine Sorge ist, dass die gemeinsamen und solidarischen Ansätze der Nachbarschaft verloren gehen, und dass Menschen nicht mehr als “überlebende” Einzelne, sondern als hoch-problematische Gruppen wahrgenommen werden, die es zu verdrängen gilt. „..dieser Tendenz ist mit Protest zu begegnen.“


Wir veröffentlichen hier das Gespräch sowohl in Textform, wie auch in kompletter Länge als Audiodatei und machen dabei zum Einstieg die Haltung des Pfarrers anhand der folgenden Ausschnitte deutlich.

Stefan Matthias: „Da fängt die Unmenschlichkeit an: zu sagen, das ist irgendwie so ein Pulk, den wir hier nicht sehen und haben wollen. Das aufzubrechen – wieder solidarisch mit dem Einzelnen sein zu können. […] Man sollte wirklich den einzelnen Menschen sehen und dann schauen, wie man diesem Menschen helfen kann. Die sind ja nicht gewaltbereit und drogensüchtig, weil es ihnen so gut geht, sondern weil es ihnen so schlecht geht. Uns gehts doch im Regelfall noch relativ gut. Von daher haben wir eine Verpflichtung an dieser Stelle. […]


Dann kommt man [aber] auf so glorreiche Ideen, dass man Sitzgelegenheiten irgendwie so gestaltet, dass man darauf nicht liegen kann, damit sich da bloß kein Obdachloser hinlegt. So was ist unmenschlich! Und dieser Tendenz, die wir haben in unserer Stadt und die auch teilweise architektonisch und städtebaulich umgesetzt wird, ist mit Protest zu begegnen.
“Hier müssen wir uns an die Seite, derjenigen stellen, die keinen anderen Lebensraum haben.“


Gespräch mit Stefan Matthias zum Thema “Obdachlosigkeit und Konflikte im Wrangelkiez. Was hilft?”

die Audiodatei

Nada: Die erste Frage ist, wie sich die Obdachlosensituation aus deiner Sicht im Wrangelkiez beziehungsweise auch in der Historie entwickelt hat?

Stefan: Also die Obdachlosen haben wir schon seit vielen Jahrzehnten hier, und man kann es daran ganz gut sehen, dass in den 90er Jahren sich dieses System der Nachtcafés ausgebildet hat. 

Da war es so, dass Obdachlose im Winter gestorben sind auf der Straße, und dann hat man das auch wirklich als Skandal wahrgenommen. Und dann hat sich dieses Netzwerk entwickelt von Einrichtungen, die im Winter in der Woche aufhaben und dann Obdachlose beherbergen. Die Tabor Gemeinde hat damit angefangen.

Das war Mitte der 90er Jahre, und ich bin ziemlich sicher, dass zu einer ähnlichen Zeit auch die St. Marien Liebfrauen Gemeinde angefangen hat mit ihrer Suppenküche. Das muss auch Mitte/Anfang der 90er Jahre gewesen sein. Die Daten habe ich nicht genau im Kopf, die müsste man recherchieren. Und auch die Übernachtung hat sich dort etabliert, in der St. Marien Liebfrauen Gemeinde. Das heißt, wir haben seit 25/30 Jahren eine Obdachlosenszene hier im Wrangelkiez, und die Gemeinden, die hier sind, haben sich so verstanden, dass sie die Obdachlosen im Winter und auch im Sommer unterstützen wollen.

Auch an der Thomaskirche gab es eine Obdachlosenarbeit. Zudem gibt es immer noch, eine von den Johannitern. Das ist vielleicht nicht so bekannt. Und große Obdachlosenarbeit gibt es natürlich um die Heiligkreuzkirche – auch mitte der 90er Jahre entstanden.

Hier sieht man, dass das schon wirklich ein Traditionsthema ist.

Und dann sieht man natürlich, dass sich in dieser Zeit auch die Art der Obdachlosigkeit möglicherweise verändert hat, und dass sich die Leute verändert haben, die da kommen. Vielleicht muss man noch einmal sehen, wie die große Zahl der Obdachlosigkeit Mitte der 90er Jahre auch mit der Wende zu tun hat. Ganz viele unserer Gäste sind Leute, die mit diesem Wechsel nicht zurande gekommen sind, aus welchen Gründen auch immer.

Eins ist auch sehr deutlich: Immer stärker und stärker, ist in den Jahren einfach der Anteil nicht deutscher Obdachloser geworden. Das sind vor allen Dingen Menschen aus dem Osten, sage ich jetzt mal. Also Polen, Weißrussland, Russland, Rumänien, baltische Staaten und so weiter und so weiter. Aber am Anfang waren es ganz, ganz viele Polen und es sind immer noch ganz viele polnische Gäste.

Nada: Gibt es noch andere Sachen, die das charakterisieren, was diese Situation Obdachlosigkeit im Wrangelkiez ausmacht? Also gibt es da Unterschiede zu anderen Kiezen? Gibt es Besonderheiten?

Stefan: Ganz eindeutig ja. 

Ich wohne hier auf der anderen Seite im Reichenberger Kiez. Da gibt es vielleicht auch mal einen Obdachlosen irgendwo. Aber es gibt nicht diese Treffpunkte, und diese Treffpunkte haben einfach mit der Infrastruktur der Wrangelstraße zu tun. Die Wrangelstraße, ist eine Straße wo ganz viele Geschäfte sind, wo ganz vieles gesellschaftliches Leben ist. Und das ist einfach ein Umfeld das für Obdachlose offensichtlich gut ist. Da treffen sich die Leute und da treffen sie die Leute. Da können sie die Flaschen sammeln, da können sie betteln. Da finden sie die Infrastruktur, die sie zum Leben brauchen. Also die Läden und die Leute. 

Und deswegen haben sich einfach hier die Treffpunkte etabliert. Jetzt ist der Treffpunkt nicht mehr so sehr hier am Cuvrybrunnen. Über Jahrzehnte gab es dort eine Szene. Täglich haben die Leute dort gestanden und sich getroffen in diesem Bereich. Und die andere Szene beim Supermarkt Falkenstein/Ecke Wrangelstraße,  auch seit Jahrzehnten. Da hat man sich getroffen, da hat man gebettelt und da hat man auch gleich eingekauft. – Oder geklaut. Je nachdem.

Tja, ist nun mal Fakt. Ich seh ja die Leute dort rein und rauslaufen. Die Infrastruktur, die sie brauchen. Das sind Läden, die Leute und ein Treffpunkt, wo sie auch nicht sofort vertrieben werden.

Nada: Du hast das nahezu 30 Jahre begleitet. Und aus dieser Erfahrung wahrgenommen, dass es dennoch dieses Koexistieren der Nachbar*innen gibt, oder gab es immer wieder Wellen wo es so schwierig wurde? Wie ist es denn jetzt? Warum ist es denn jetzt so bzw. was ist denn jetzt anders?

Stefan: Nach meiner Wahrnehmung war das im Wrangelkiez da bis vor ein paar Jahren eigentlich immer irgendwie akzeptiert und die Nicht-Akzeptanz oder zurückgehende Akzeptanz für Leute, die eher am Rande unseres Sozialsystems leben, ist sozusagen mehr entstanden durch den Wandel der Szene auf dem Görlitzer Park. Da wurden die dann sozusagen mit subsumiert. Plötzlich ist seit sechs, sieben Jahre auf dem Görlitzer Park eine völlig andere Szene als vorher. Da war ja auch schon mal eine Dealerszene und die hat sich sehr stark verändert durch die afrikanischen Migranten, Lampedusa-Flüchtlinge, die aus Nordafrika kommen größtenteils. Die (dann) eben auch nicht bloß einzeln, sondern zu relativ vielen da waren. Ich glaube, mit diesem größer werdenden weiteren sozialen Brennpunkt werden auch die Obdachlosen sozusagen jetzt eher wahrgenommen. 

Das kommt jetzt auch noch dazu. Das heißt die Belastungsgrenze eines Kiezes wird hier an dieser Stelle schon irgendwie sehr getestet. Und das haben wir seinerzeit seit vielen Jahren mittlerweile.

Nada: Das heißt, du sagst nicht: Es ist jetzt in den letzten Wochen und Monaten, vielleicht in diesem Jahr, so massiv anders geworden, sondern für dich ist es eine Entwicklung, die eigentlich kontinuierlich schon seit den letzten sechs Jahren stattfindet?

Stefan: Ja. Ein Stück weit, wird also, wie gesagt, die soziale Belastbarkeit dadurch gerade getestet.

Das finde ich eigentlich eine ganz gute Idee. Weil irgendwann kommt man dann an eine Stelle, wo so ein Kiez so das dann eben auch nicht mehr aushält. Da kann man ja die Nachbarn und die Bewohner auch gut verstehen. Wenn sie mit ihren Kindern nur noch unter erschwerten Bedingungen auf dem Spielplatz im Görli agieren können, nur weil sie damit rechnen müssen, durch ein Spalier zu laufen bzw. möglicherweise auf dem Spielplatz Spritzbestecke und ich weiß nicht was zu finden. Das ist natürlich eine Belastung für die Anwohner. 

Der Lärm ist eine Belastung für die Anwohner. Das kann ich gut nachvollziehen. Wenn man über eine bestimmte Grenze geht, dass man dann unzufrieden wird und die Koexistenz funktioniert dann eben nicht mehr.

Nada: Das heißt, du siehst die Ursache auch für dieses Nicht-mehr-Funktionieren und nicht-mehr-Aushalten dieser Belastung, an dem Überhandnehmen von der Belastung?

Stefan: Ja.

Nada: Kannst du noch sagen, was nach deiner Einschätzung der Grund für diese Veränderung dieser Gruppengrößen oder dieser Lage ist? Bzw. -wenn du das so wahrnehmen würdest- siehst du jetzt noch mal eine akute Veränderung?

Stefan: Also ich glaube schon, dass man beobachten kann, dass die Gruppen von Obdachlosen auch in den letzten Jahren, aber im letzten Jahr deutlich angewachsen ist.

Das heißt, hier konzentrieren sich Gruppen von Obdachlosen. 

Das ist ja, wie gesagt, nicht in jedem Kiez so. Sondern das ist eben hier so und das sind schon in meiner Wahrnehmung nach mehr geworden und sind dann auch mehr Leute dabei mit denen man dann schwer Kontakt herstellen kann. Die wirklich schwierig sind aufgrund ihres Drogenkonsums, aufgrund ihres Verhaltens, aufgrund ihres sich nicht verständigen Könnens, weil sie null Deutsch sprechen. Also selbstverständlich nicht alle, aber viele.

Wie gesagt, das ist, denke ich, das, was man beobachten kann im Moment. Dass einfach die Menge sozusagen überhandnimmt.

Nada: Das heißt Du würdest im Moment auch die immer wieder angesprochene Veränderung bei den Drogen, die konsumiert werden und öffentlich konsumiert werden sehen? Also siehst du das auch so, dass es da eine starke Veränderung gibt? Weil immer auch gesprochen wird von den viel stärkeren Drogen, die viel öffentlicher konsumiert werden?

Stefan: Das kann ich aus persönlicher Erfahrung jetzt leider nicht bestätigen. Aber ich sehe schon auch, dass das einfach auch im Umkreis unserer Arbeit von den Leuten viel unverschämter und offener konsumiert wird. Die Schamgrenzen fallen da auch ein Stück weit weg, und man versteckt sich gar nicht mehr, sondern das scheint so eine Tendenz zu sein, dass man das durchaus auch sehr öffentlich konsumiert.

Nada: Es ist dabei dann vielleicht interessant, auch beide Seiten zu sehen. Also einerseits: Wovor hat man Angst? Jetzt mal aus der Perspektive von Nachbar*innen. Aber auch: Wovor hast du jetzt Angst in der Entwicklung? Oder was sorgt dich vielleicht auch in der Entwicklung, wenn du die Situation aktuell anschaust?

Stefan: Was man befürchten kann, wenn diese Grenze der Belastbarkeit für so nen Kiez ständig überschritten wird, ist, dass es natürlich zu starken Konflikten kommt.

Konflikten zwischen diesen Gruppen, den Obdachlosen oder auch den Drogendealern und auch den Drogenkonsumenten und den Anwohnern.

Das, was man eigentlich möchte, dass man die Solidarität der Anwohner für die Lebenssituation dieser Leute aktiviert, wird dann schwer bis unmöglich. Wenn einfach die emotionale Belastung für die Anwohner so hoch ist.

Ich glaube, jeder, der einigermaßen ungestresst ist, kann sich ja im Prinzip in eine Biografie von so jemanden hineinversetzen.

Ich würde dann immer sagen; Meine Güte, wenn ich diese Biografie hätte, weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt noch leben würde. Und das sind die Überlebenden. Die haben wirklich eine heftige Geschichte meistenteils hinter sich.

Also dafür kannst, du dich nur öffnen, wenn du einigermaßen stressfrei bist. Wenn du im Stress bist, dann wird der andere sozusagen zum Agressor, zu einem Feind und du kannst überhaupt kein Mitgefühl mehr entwickeln. 

Das wäre das, was ich befürchte. Dass da einfach eine starke Polarisierung passiert und man dann überhaupt gar nicht mehr daran arbeiten kann, wie man die Lebenssituation für diese Leute, aber auch für sich selber positiv verändern kann, weil einfach die Gräben so tief werden.

Nada: Das bringt auch tatsächlich schon die Frage auf, die du das letzte mal schon so schön überschrieben hast. Was hilft denn eigentlich? Ich glaube das auch einige Menschen schon, die Erfahrung gemacht haben, was nicht hilft. Genau. Die große Frage: Was hilft oder was kann man denn überhaupt tun?

Stefan: Vielleicht nur einen Gedankengang: 

Wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut, dann hat man natürlich auch eine sehr starke Veränderung der Bewohnerschaft des Wrangelkiezes. Hier hat eine extrem starke Verdrängung stattgefunden. Die Leute, die nicht so sozial stark sind und in diesen billigen Wohnungen hier gewohnt haben. Die sind ja über die Jahrzehnte massiv verdrängt worden. Hier wurden massenhaft Eigentumswohnungen geschaffen. Die Mietpreise und die Gewerbemietpreise gehen nach oben. 

Vor zehn Jahren hingegen hat man hier noch versucht, die leerstehenden Gewerbeimmobilien sozusagen zwischenzunutzen und heute erzielen die Traumrenditen von 30/40 Euro je Quadratmeter. 

Das verändert natürlich auch nochmal sehr stark das Verhältnis zwischen den Einwohnern hier, die sich stark verändert haben, wo das soziale Niveau deutlich hochgegangen ist. Das Durchschnittseinkommen ist deutlich hochgegangen und umso höher das Durchschnittseinkommen im Vergleich zu den Leuten, die sich am anderen Ende der Einkommensspanne befinden, umso weiter das auseinander geht, umso schwieriger wird wahrscheinlich die Situation.

Weil die Solidarität mit den Armen, ist unter denen, die in einer ähnlichen und nicht weit entfernten Lage sind, viel, viel größer als wenn diese Schere weit auseinander geht.

Nada: Und was würde nun helfen?

Stefan: Nochmal eine ganz andere Frage. Kennst du diesen Erfahrungsbericht von jemandem, der versucht hat, in Baden-Baden als Obdachloser zu überleben? Baden-Baden ist die deutsche Kommune, die in Deutschland das höchste Durchschnittseinkommen hat. Quasi unmöglich! Du kriegst von den Leuten keine Überlebenshilfe. In Neukölln ist das kein Problem. Das war das Gegenexperiment. Man hat das beides ausprobiert.

Nada: Auf der anderen Seite fällt mir dazu gerade ein, dass gerade aus den gewachsenen Communities, die noch übrig sind und mittlerweile so unter Druck sind, dass da aber auch die Solidarität und das Verständnis massiv abnimmt. Jetzt haben wir die Situation, dass die, die besser situiert sind, eigentlich noch die Flexibilität des Kiezes tragen, während die anderen schon zu ganz anderen Mitteln bereit sind zu greifen. 

Noch einmal zurück zu der Frage: Was würde helfen?

Stefan: Ja, was würde helfen? Bei allen Überlegungen zur Hilfe muss man sich klar sein, wenn man vor 30 Jahren die Obdachlosen hier hatte, dann wird man sie auch in 30 Jahren noch haben. 

Also alle Hilfe ist nie eine Hilfe, die die Obdachlosigkeit beseitigen wird. Aus meiner Sicht jedenfalls. 

Das ist zwar als Idealzustand natürlich anzustreben, und ich würde das auch immer fordern. Ich würde immer fordern, macht das bitte schön wie in Finnland. Jeder, der obdachlos ist, kriegt sofort, wenn er auf der Straße angetroffen wird, eine Wohnung zugewiesen. Housing first. Mit großem Erfolg wird das in Finnland gemacht. Dass man das hier nicht macht, ist ein Skandal. Aber die realistische Einschätzung ist schon, dass leider diese wirklich wirkungsvollen Mittel durch unsere Politik nicht umgesetzt werden, dass da der Wille dazu nicht da ist.

Was jetzt kurz- und mittelfristig vielleicht helfen würde, ist, dass man schaut; wie kann man zum Beispiel insgesamt die Lebenssituation dieser Menschen verbessern? Das muss der Fokus sein aus meiner Sicht. Und dazu würde erst einmal gehören Ihr Leben auf der Straße einfacher zu machen.

Nada: Macht man es dann nicht komfortabler? Das ist ja auch die Frage dazu, im Sinne von man lädt mehr ein doch da zu bleiben?

Stefan: Man akzeptiert erst mal die Situation, in der sie leben. Und wenn man ihnen schon keine Wohnung anbieten kann, dann muss man wenigstens eine unmittelbare Hilfe für Ihre Lebenssituation bieten.

Das betrifft z.B. vor allen Dingen auch die ganzen hygienischen Sachen.

Hier muss unbedingt irgendwo eine frei benutzbare Toilette, vielleicht nicht nur eine Toilette, vielleicht sogar zwei Toiletten und vielleicht sogar auch ein oder zwei Duschen hin. So wie man das auch nach vielen, vielen, vielen Jahren endlich am Bahnhof Zoo hingekriegt hat. Nachdem das da auch immer bloß Provisorien gab. Also so was gehört hier auch hin, und zwar nutzbar, eben nicht nur tagsüber, sondern auch abends und nachts. Es muss offen sein, es darf nichts kosten.

Nada: Dann hattest du ja auch schon gesagt dieses Thema des Einbindens und Erreichens. Sozusagen dieser Streetwork Schwerpunkt?

Stefan: Genau, das wäre jetzt eine weitere Geschichte. Dass man natürlich guckt, dass man Kontakt zu den Leuten aufnimmt und schaut, wie man mit ihnen auf einen offenen Weg kommen kann, dass sie einen Ausweg aus Ihrer Situation finden.

Das ist eine sozialarbeiterische Aufgabe. Hier muss ein Streetworkschwerpunkt hin. 

Sodass die Leute hier auch wirklich abgeholt werden. Und zwar müssen das Streetworker sein, die auch die entsprechenden Sprachen sprechen. Die Sprachkompetenz muss einfach da sein! 

Und dann muss man sehen, ob man nicht auch Lösungen für diese Menschen schaffen kann, die nicht nur darin besteht, eine vorübergehende Wohnmöglichkeit -nach ASOG- zu finden, sondern eine die ein bisschen mehr Perspektive bietet. Und da haben wir ein echtes Problem, sage ich jetzt mal. 

Und hier, an dieser Stelle sehen wir wieder, dass die Probleme nicht einfach bloß mit dem Goodwill vor Ort zu lösen sind. Das Problem ist: Es gibt nur mangelhafte Vereinbarungen mit den Herkunftsländern dieser Menschen, was sozusagen die Sozialpartnerschaft angeht. Die werden sich eigentlich hier selber überlassen. 

Unser System sagt: Für die sind wir nicht da, weil die sind keine Arbeitnehmer. Für die sorgen wir nicht. Die gehören nicht in unser Sozialsystem. Die Herkunftsländer kümmern sich um die Menschen, die jetzt hier sind, auch nicht. 

Hier fällt uns die Arbeitnehmerfreizügigkeit insofern auf die Füße, als für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Gewinn herausgeschlagen wird. Für die Betriebe, die sich von überall her aus Europa die billigen Arbeitskräfte holen. Aber nicht dafür sorgen, dass für Leute, die an den entsprechenden Umständen scheitern, vernünftig gesorgt wird. Dafür wird einfach kein Geld in die Hand genommen. 

Es ist ein Skandal, die Art und Weise, wie wir kapitalistisch wirtschaften. Es gibt kein nachhaltiges Konzept an dieser Stelle, sondern nur ein ausbeuterisches Konzept, was die Arbeitskraft angeht. Und das Ergebnis finden wir auf unseren Straßen wieder.

Das war jetzt keine Hilfe, sondern das waren die Grenzen der Hilfen, über die man sich wirklich klar sein muss. 

Aber trotzdem muss man mit den Leuten Kontakt aufnehmen und schauen, ob man ihnen in ihrer Situation helfen kann und ob es doch Möglichkeiten gibt, dass sie eine Wohnung finden, dass sie einen Job finden und so weiter.

Das Weitere wäre da die meisten, von denen in irgendeiner Art und Weise drogenabhängig sind, muss man schauen, dass man hier auch auf dieser Ebene versucht, den Leuten ein Angebot zu machen. 

Die sind krank. Also die sind drogenkrank. Beinah alle. Ganz wenige sind es vielleicht nicht. Beinahe alle haben entweder ein Alkoholproblem oder ein anderes Drogenproblem.

Nada: Also ich finde auch die Grenzen der Hilfe zeigen ja, dass es ja nur um eine Kleinteiligkeit geht und wir vielleicht auch nur in einem bestimmten Rahmen agieren können, den du aufgezeigt hast. Aber das ist eben der Bereich in dem wir handeln können.

Stefan: Genau! Hier kann man auch handeln. 

Hier kann man auch auf die Leute zugehen und gucken; Was konsumieren die eigentlich? Dann kann man ihnen Angebote machen, clean zu werden, in Klammern sie begleiten, dass sie nach der Entgiftung nicht sofort wieder auf die Straße entlassen werden. 

Weil nach der Entgiftung sofort wieder auf der Straße, dann kannst du dir die Entgiftung eigentlich sparen, weil sie dann gleich wieder anfangen zu konsumieren. 

Auch da geht es um weitergehende Perspektiven einer Resozialisierung. 

Und der vierte Bereich wäre der ganze gesundheitliche Bereich. Man sieht, manche von ihnen sind einfach krank. Also nicht nur krank im Hinblick auf Drogenabhängigkeit, sondern eben auch auf andere Krankheiten. 

Hier fällt schon auf: das ist ein besonders schwieriges Gebiet zugegebenermaßen, dass viele Leute in der Obdachlosenszene auch stark psychisch krank sind. 

Hier ist die Kontaktaufnahme und der Vertrauensaufbau extrem schwierige und extrem langwierige Arbeit. Aber man muss sie machen! Man muss versuchen mit den Leuten einen Kontakt aufzubauen, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, damit man dann möglicherweise dann nachher auch medizinisch helfen kann.

Nada: Zum Schluss nochmal die Frage nach der Verzahnung oder Einbindung der unterschiedlichen Akteurinnen, wie der Polizei, vielleicht auch das, was der Bezirk tun sollte oder tun kann, das was die Nachbarschaft tun kann? Wie geht das irgendwie zusammen, oder welche Rolle spielen die Einzelnen? Wie wichtig ist es, dass sie sich abstimmen?

Stefan: Gerade in einer Situation, wo es schwierig ist, ist das A und O, dass man miteinander redet. 

Und wenn die Kommunikation anfängt, hier an dieser Stelle gestört zu werden, weil man denkt, der andere hört eh nicht zu oder der Andere macht nichts, dann kann die Situation möglicherweise eskalieren. Und wenn man gar nicht mehr wahrnimmt, was der andere möglicherweise macht. 

Von daher muss man es machen. Dass natürlich der Bezirk hier auch vor Ort Verantwortung zeigt, durch den Sozialstadtrat oder durch Vertreter des Sozialstadtrates. Denn das ist eine Aufgabe des Sozialstadtrates, was wir erleben. 

Die Polizei ist unbedingt mit einzubinden. Natürlich ist auch die Polizei wichtig. Sie ist einfach wichtig, um da, wo wirklich Gewalt auf der Straße ist und Kriminalität ist, gegen diese Gewalt und Kriminalität vorzugehen und sie auch zu unterbinden. Das ist ihre Aufgabe. Und die ist auch notwendig und gerechtfertigt.

Aber nicht notwendig und hilfreich finde ich, zu Verlangen, dass man sagt; die Polizei soll diese Leute, die nach Meinung mancher vielleicht schwierig sind, so vertreiben, dass sie hier nicht mehr sind. 

Das verschiebt das Problem nur an eine andere Stelle und hilft den Leuten überhaupt gar nicht. Für eine Verdrängung ist die Polizei nicht zuständig.

Nada: Dafür sollte auch eigentlich niemand zuständig sein.

Stefan: Aber das muss man mal ausdrücklich sagen. Das ist nicht die Aufgabe der Polizei, die Leute zu verdrängen oder woanders hin zu verbringen! 

Das war ein Skandal, als man das früher gemacht hat. Da hat man Obdachlose an den Stadtrand verbracht. Da hat man die wirklich in den Wagen geladen und hat sie jenseits der Berliner Grenze in Brandenburg ausgesetzt. Das ist unmenschlich. Sowas geht gar nicht! 

Obdachlose haben einen Wohnort, und der Wohnort ist ihr Kiez hier. Diese Bindung ist einfach zu achten, weil man sonst diesen Menschen den letzten Halt und die letzten Orientierungspunkte ihres Lebens raubt. Und das ist unmenschlich. 

Da setzte ich wirklich ein großes Ausrufezeichen, weil das eine Tendenz in der Stadt ist, gegen die alle Akteure in der Obdachlosenarbeit seit den neunziger Jahren immer wieder protestieren und sagen: Wir können das nicht machen! 

Obdachlose leben auf der Straße, sie leben in der Öffentlichkeit. Das ist ihr Lebensraum und den können wir ihnen nicht nehmen! 

Aber es werden immer mehr Einschränkungen dieses Lebensraumes vorgenommen. Früher konnten sie sich auf den Bahnhöfen und so weiter frei bewegen. Aber das war öffentlicher Raum. Heute ist das alles privatisiert. 

Dort kriegen sie Hausverbot und dann können sie da nicht mehr sein. Das heißt, der öffentliche Raum wird immer stärker eingeschränkt. Dann kommt man auf so glorreichen Ideen, dass man Sitzgelegenheiten irgendwie so gestaltet, dass man darauf nicht liegen kann damit sich da bloß kein Obdachloser hinlegt. So was ist unmenschlich! 

Und diese Tendenz, die wir haben in unserer Stadt und die auch teilweise architektonisch und städtebaulich umgesetzt wird, ist mit Protest zu begegnen. Hier müssen wir uns an die Seite stellen, derjenigen, die keinen anderen Lebensraum haben.

Nada: ..und vielleicht auch nicht so viel vermischen. Das sozusagen nicht als Eins sehen, dass es bestimmte Verhaltensweisen gibt, gegen die man sich vielleicht auch erwehren muss. Wenn ich angegriffen werde, dann muss ich eben die Polizei rufen. Aber das ist etwas anderes, als zu sagen: Alle Menschen in dieser Gruppe haben hier keinen Platz. Und ich glaube, das ist das, was da gerade so zu kippen droht, oder wo diese Belastungsgrenze irgendwie erreicht ist. 

Aber ich glaube, da ist es ja auch so, wie du schon gesagt hast. Da ist dieser Punkt wichtig, irgendwie noch einem einzelnen Menschen zu begegnen und hinzuschauen. Also da fängt diese Unmenschlichkeit ja auch an, zu sagen: Die sind alle Eins und das ist irgendwie so ein Pulk, den wir hier jetzt nicht sehen und haben wollen. Das irgendwie aufzubrechen, wieder und solidarisch mit dem Einzelnen sein zu können und nicht mit einem (bestimmten)Verhalten.

Stefan: Das ist bei den Obdachlosen wie bei allen anderen. Es sind Einzelne, die schwierig sind. Es sind nie alle schwierig! 

Es sind Einzelne, die eventuell gewaltbereit sind. Es sind nie alle gewaltbereit. 

Und das dann sozusagen auf die ganze Gruppe zu übertragen – sollte man nicht machen. Man sollte wirklich den einzelnen Menschen sehen und dann schauen, wie man diesem einzelnen Menschen auch helfen kann, in so einer extrem schwierigen Lebenslage. Die sind ja nicht gewaltbereit und drogensüchtig, weil es ihnen so gut geht, sondern weil es ihnen so schlecht geht. Uns gehts doch im Regelfall noch relativ gut. Von daher haben wir eine Verpflichtung an dieser Stelle.