Am 9. August des Jahres präsentierte das Initiativenforum das Mietendossier 2021 auf dem Gelände des Hauses der Statistik. In Anlehnung an das erste bereits so genannte Mietendossier von vor 10 Jahren wird erneut die aktuelle wohnungspolitische Situation der Stadt erörtert. Nicht aus Sicht einer Regierung und deren politischen Parteien, sondern zuerst konsequent aus einer Sicht von “Unten”, aus der Sicht der wohnungspolitischen Stadtbewegung, ihrer Initiativen und den Mieter*innen, die hinter diesen stehen. Stets jedoch im direkt angestrebten Dialog mit der “Politik”. Waren die damaligen Forderungen erfolglos? Dreht sich die wohnungspolitische Frage vielleicht anhand der massiven Profitinteressen nur im Kreis?
Im Mietendossier 2021 versuchen 27 städtische Initiativen darauf eine erneute Antwort zu geben und sich weiterhin konkret einzumischen, sowie neben Kritik auch dedizierte Lösungsvorschläge anzubieten für die, die da gemeinhin als Politik*innen oder “die Politik” benannt werden.
In diesem Zusammenhang bleibt es auch übereinstimmend außer Frage, dass die Situation des für die Authentizität und die Funktion der innerstädtischen Kieze so wichtigen kleinteiligen Gewerbes, das bislang ohne jeglichen wirklichen gesetzlichen Schutz analog zu einem Mietrechtschutz da steht, mit als wesentlich für die Zukunft unserer Stadt betrachtet werden muß.
Jede lokale Struktur hat ihren Überbau, jeder Kiez seine kommunale Bezirks- verwaltung und -politik – jede deutsche Stadt hat die übergreifende bundesweite Gesetzgebung, die wie so oft in eklatantem Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen steht. Was für das niederbayrische Dorf “Haunzenbergersöll”, ein völlig wahllos herausgenommenes Beispiel, gilt und dort vielleicht auch wohnungspolitisch betrachtet sozial gerecht sein könnte, erfüllt eben diese Zielsetzung noch lange nicht obligatorisch für eine Kiez wie z.B. der Oranienstraße oder dem Wrangelkiez in Friedrichshain-Kreuzberg . Die Situation der Berliner Altbauten und deren typische Mietshäuserstruktur haben in den meisten Fällen mit Zweifamilienhäusern in Baden-Württemberg in etwa so viel zu tun, wie der berühmten Vergleich zwischen Äpfel und Birnen.
Video der Pressekonferenz vom 9.8.2021
Aus dem aktuellen Mietendossier 2021:
Gewerbetreibende schützen!
Bizim Kiez, NETZ für Selbstverwaltung und Kooperation Berlin-Brandenburg e. V.
Gewerbemietverträge sind frei verhandelbar. Das betrifft sowohl die Laufzeit als auch die Miethöhe und stellt besonders Kleingewerbetreibende und Handwerksbetriebe im innerstädtischen Bereich vor wachsende Probleme. Auch Kitas, Beratungsstellen, Sportstätten, Ateliers und selbst Arztpraxen sind von Verdrängung bedroht.
Obwohl die meisten Gewerbetreibenden dauerhaft an ihrem Standort bleiben wollen, schließen viele Vermieter:innen nur noch Verträge mit kurzer Laufzeit ab. Eine
langfristige Planung ist so nicht möglich, Investitionen stellen ein hohes Risiko dar. Aber auch unbefristete Verträge bieten keine Sicherheit: Sie können von Vermieter*innen jeweils zu Beginn eines Kalendervierteljahres zum Ende des folgenden Quartals gekündigt werden, sofern im Mietvertrag nichts anderes vereinbart wurde.
Eine Begründung ist nicht nötig.
Der Immobilienverband Deutschland stellt in seinem Gewerbe-Preisspiegel 2019/2020 fest: „Berlin macht bei den Ladenmieten die gleiche Entwicklung wie im Wohnungssegment.“ Große Läden in Bestlage verteuerten sich danach im Durchschnitt um 18 Prozent, kleine in 1-B-Lage sogar um 27 Prozent. Vermieter*innen, die das Doppelte und Dreifache verlangen, sind keine Seltenheit. Die steigenden Mieten führen dazu, dass sich das Straßenbild der Kieze deutlich verändert. In Bezirken, die bei
Tourist:innen beliebt sind, reihen sich Spätis, Bars, Imbisse und Billigrestaurants aneinander – nur sie können Mieten von mittlerweile bis zu 30 Euro pro Quadratmeter erwirtschaften. In anderen Lagen werden aus Blumenläden, Buchhandlungen oder kleinen Lebensmittelgeschäften sogenannte Co-Working-Spaces, in denen sich Freiberufler*innen die kleine Fläche und die hohe Miete teilen.
Auch die Aufteilung von Wohnhäusern in Eigentumswohnungen setzt die Gewerbetreibenden unter Druck. Genauso wenig wie Mieter:innen ihre Wohnungen kaufen können, sind sie nicht in der Lage, ihre Laden- oder Büroflächen zu erwerben. Das Problem betrifft nicht nur die Schaufensterfront, sondern auch die Werkstätten und produzierendes Gewerbe in den Hinterhöfen.
Die landeseigenen Wohnungsgesellschaften (LWU) wiederum, die auch Gewerbeflächen verwalten, haben bei Vermietungen nicht im Blick, welches Gewerbe für die
Nahversorgung ihrer Mieter:innen nützlich wäre oder welche verdrängten Angebote aus der Nachbarschaft sie auffangen könnten.
Ein Gewerbemietrecht schaffen !
Wir benötigen Unterstützung des politischen Engagements auf Bundesebene, damit ein Gewerbemietrecht entsteht. Dieses muss einen Kündigungsschutz für Mieter*innen enthalten und den Ländern ermöglichen, Gewerbemietspiegel und Kappungsgrenzen für Gewerbemieten in Gebieten mit angespanntem Gewerbemietmarkt einzuführen. Das Land Berlin soll sich über den Bundesrat dafür einsetzen, dass ein solches Gewerbemietrecht entsteht. Und es steht auch in der Kompetenz des Senats, dort, wo das Land selbst Vermieter ist, sich für faire Verträge mit langen Laufzeiten und angemessenen Mieten einzusetzen. Die Vergabe von Gewerberäumen soll unter Einbeziehung der Nachbarschaft in transparenten Verfahren erfolgen.
Melanie Dyk vom Initiativenforum Berliner Stadtpolitik erwähnt bei der Vorstellung des Mietendossiers 2021 explizit das Gewerbemietrecht im Handlungsbedarf auf Bundesebene: [Video]
Lorena Jonas,
„23 Häuser sagen Nein“
[Video]
“Wohnen ist ein Menschenrecht und keine Ware. Das ist ein ganz gängiger Spruch der Mietenbewegung, nicht nur in Berlin, aber gerade weil er so altbewährt und gängig ist, vergisst man vielleicht manchmal, was er eigentlich meint. Er meint wohnen ist ein existentielles Grundbedürfnis und jeder Mensch hat Recht auf angemessenen Wohnraum. Und dieses Recht für jeden Menschen wirklich zu verwirklichen, ist eine Staatsaufgabe und muss deswegen als eigenständiges, politisches Ziel verfolgt werden. Und doch sehen wir, dass der Bereich Wohnen […] Bei immer noch fast 70 Prozent des Wohnungsbestandes in privater Hand des freien Marktes, verlassen wir uns nicht auf das neoliberale Dogma der Markt regelt. Denn das einzige, was der Markt wirklich regelt, ist möglichst viel Spielraum zu schaffen für steigende Mieten, Verdrängung, Identifizierung, Diskriminierung und nicht zuletzt soziale Spaltung. Und das ist der Ausverkauf der Stadt. Der Stadt, die so zu einer riesigen Kapitalanlage verkümmert. Und in so einer Stadt wollen wir nicht leben, die wie so eine Riesengelddruckmaschine, wie eine Bank aus Stein und Stahl funktioniert. Wir wollen eine Stadt Die wirklich für alle Menschen ein sicheres Zuhause bieten kann und ein bezahlbares Zuhause? Und eine Stadt, die wir mitgestalten können. Und dafür stehen wir als Dosiergruppe ein.”
Wolfgang Mahnke, Mieterwerkstatt Charlottenburg [Video]
“…das alles haben wir in dem Dossier in verschiedenen Beiträgen festgehalten. Auch den Umstand beim letzten Fall, dass die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sich auch mehr kümmern müssen oder überhaupt kümmern müssen ein Kiezumfeld zu schaffen, bei dem auch die Gewerbe die da sind entsprechend den Bedürfnissen, der dort wohnenden Bevölkerung, also auch bei den Gewerbemieten nicht danach gehen wer ist in der Lage die höchste Miete zu zahlen. Starbucks oder irgendwer, sondern zu sehen, brauchen wir hier kleine Handwerker, brauchen wir andere kleinere Gewerbetreibende und das auch wirklich als als Konzept des Vermietens zu machen”
[Video]
#WPS 16: Gewerbetreibende –
Verdrängung verhindern (Entwurf Horst Arenz)
Gewerbemietverträge sind frei verhandelbar. Der Kündigungsschutz des Mietrechts gilt nicht. Das stellt besonders Kleingewerbetreibende und Handwerksbetriebe im innerstädtischen Bereich vor wachsende Probleme. Auch Kitas, Beratungsstellen, Sportstätten, Ateliers und selbst Arztpraxen sind von Verdrängung bedroht.
Das Straßenbild der Kieze polt sich um: Spätis, Bars und Imbisse. Billig-Restaurants reihen sich aneinander. Aus Blumenläden, Buchhandlungen oder kleinen Lebensmittelgeschäften werden sogenannte Co-Working-Spaces. Auch die Aufteilung von Wohnhäusern in Eigentumswohnungen trifft immer mehr Gewerbetreibende.
Fragen auf Basis unserer Forderungen:
→ Wie verhält sich Ihre Partei zu der Forderung, die Verdrängung von nahversorgenden Gewerbetreibenden zu verhindern?
→ Wie stehen Sie zu der Forderung, auf bezirklicher Ebene regulierend gegen die Verdrängung von Gewerbetreibenden vorzugehen? Welche Mittel wollen Sie dafür mobilisieren?
→ Was spricht dagegen, dass die Landeseigene Wohnungsunternehmen (LWU) nahversorgende Gewerbetreibende in ihren Beständen halten sollen?
→ Was muss getan werden, damit bei der Vergabe von Gewerbeflächen der LWU solche Gewerbetreibende Vorrang haben, deren Angebot der Nahversorgung der Wohnbevölkerung dient?
→ Was wollen Sie für die Durchsetzung eines Gewerbemietrechts und einer Mietpreisbremse für Gewerbetreibende auf Bundesebene unternehmen?
Der Wahlprüfstein der Initiativen zum
mietenpolitischen Dossier 2021 im Bezug auf eine notwendiges Gewerbemietrecht:
Vor etwa einem Jahrzehnt – das Mietenpolitische Dossier 2011. Ernüchternd, oder eigentlich der Beweis für eine starke Bewegung? Lisa Vollmer von “Stadt von Unten” [Video]
Eine objektive Antwort darauf fällt den Initiativen und ihren Aktivist*innen spontan betrachtet nicht so ganz leicht – immerhin bedeutet es gleichzeitig das Zugeständnis zu einem enormen, jahrelangen Engagement, dass nur in den wenigsten Fällen tatsächlich gebührend entlohnt wurde. Dennoch – die Frage ist auch eher unkompliziert zu beantworten, wie es Lisa Vollmer von “Stadt von Unten” macht:
Das Gewerbe, insbesondere das Kleingewerbe
vor Verdrängung schützen!
Gewerbemietverträge sind frei verhandelbar. Einen Kündigungsschutz wie im Mietrecht gibt es unter vielen anderen Aspekten nicht im Ansatz. Es gibt auch bislang keine anderen Regelungen, die sich Gewerbemietrecht nennen lassen könnten. Gewerbemietverträge sind also reines Vertragsrecht und können deswegen völlig willkürlich von den Wirtschaftsmächtigen im Markt entworfen und durchgesetzt werden werden. So kommt es inzwischen aufgrund der zugespitzten Gewerbemarktsituation, zumindest was bezahlbare Mieten betrifft, zu absurden Vereinbarungen zwischen Vertragspartner*innen, die eher einen “Wilden Westen” assoziieren lassen als eine soziale Marktwirtschaft. Verträge mit ausufernden Laufzeiten von teilweise nur noch wenigen Monaten sind das Resultat. Doch weder Kleingewerbetreibende noch Handwerksbetriebe oder Ateliers im innerstädtischen Bereich, erst gar nicht Kitas, Beratungsstellen, Sportstätten oder Arztpraxen sind in der Lage auf einer solchen Basis eine Existenz aufzubauen. Wer es dennoch tut, geht in den meisten Fällen ein extremes Geschäftsrisiko ein. Insolvenzen sind zwangsläufig die Folge.
“Das Straßenbild der Kieze polt sich um: Spätis, Bars, Imbisse und Billig-Restaurants reihen sich aneinander, aus Blumenläden, Buchhandlungen oder kleinen Lebensmittelgeschäften werden sogenannte Co-Working-Spaces. Auch die Aufteilung von Wohnhäusern in Eigentumswohnungen trifft immer mehr Gewerbetreibende.”
Carola Rönneburg, Aktivistin der ersten Stunden in der Kiezinitiative “Die GloReiche”, auch Teil des Teams des Initiativenforum Stadtpolitik Berlin, bringt die Misere am frühen Morgen des Räumungstages der Traditionsbuchhand Kisch& Co kurz nach der Schlüsselabgabe an den Gerichtsvollzieher deutlich zum Ausdruck [Video]:
“Es muß auf eine Art und Weise geregelt sein, daß Leute, die ihre Existenz auf einen Laden gründen, Rechte haben und planen können. Und im Moment ist es so, eigentlich keiner planen kann, weil die Sachen immer irrwitziger werden und niemand planen kann. Weil es z.B. inzwischen so ist, daß Läden vermietet werden mit einer Laufdauer von einem halben Jahr – oder einem Jahr. Wer soll sich bitteschön darauf eine Existenz aufbauen können?” […]
Ein Rückblick – das Mietendossier 2011 und die Mahnung 2014
»Wir sind Mieter/innen aus allen Teilen der Stadt, die sich zu einem Bündnis zusammengefunden haben. Gemeinsam besuchten wir die letzten Berliner Koalitionsverhandlungen im Roten Rathaus und übergaben den Politiker/innen ein mietenpolitisches Dossier. 124 Tage später organisierten wir eine gut besuchte Veranstaltung im Abgeordnetenhaus und fragten nach, was inzwischen getan wurde.
Auf dem Stadtforum 2030 am 7. April 2014 haben wir die zweite Mahnung, das zweite mietenpolitische Dossier übergeben. Die Situation ist für die Mieter/innen nach wie vor absolut mangelhaft.
In diesem zweiten Dossier haben eine Vielzahl von Häusern und Gruppen ihre Probleme und Lösungsvorschläge zusammengefasst. Das politische Berlin ist informiert. Wenn die Kritik und die Probleme der Mieter/innen jetzt nicht ernst genommen werden, muss man Absicht unterstellen.
Uns geht es um nichts weniger als um eine Wohnungspolitik, die Verdrängung und Ausgrenzung verhindert und dauerhaft preiswerte Mietwohnungen in allen Teilen der Stadt bietet:
Ein Recht auf Stadt für alle!
Als Mietenpolitisches Dossier wurden damals ebenso konkrete Vorschläge für die Politik vorgelegt:
- zur gesetzlichen und langfristigen Sicherung der knapp 140.000 Sozialwohnungen (langfristige gesetzliche Mietenbegrenzung unter dem Jobcenter-Satz)
- zum Schutz vor Umwandlungen in Eigentumswohnungen (Umwandlungsverordnung),
- zur Verhinderung des Abrisses preiswerter Bestandswohnungen (Reform der Bauordnung),
- zur Stärkung von Mieterinteressen bei energetischen Sanierungen (sofortige stadtweite Anwendung umfassender Milieuschutzregelungen),
- zur Neuregelung der Bemessungsgrenzen der Kosten der Unterkunft (Übernahme der tatsächlichen Kosten bei Bestandsmieter/innen und Regionalisierung der Bemessungsgrenzen),
- zur Kommunalisierung von Wohnungsbeständen zur dauerhaften Sicherung von günstigen Mietpreisen (Einrichtung eines revolvierenden Fonds als kommunales Sondervermögen)
- zur konsequenten sozialen Ausrichtung der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften (Korrektur des Mietenbündnisses mit kommunalen WBG, z.B. Kappung der Modernisierungsumlagen auf dem Niveau der ortsüblichen Vergleichsmiete und Zwangsräumungsmoratorium)
„Eine Stadt, in der Miete nicht zum Verdrängungs- und Armutsrisiko wird, setzt voraus, dass Bestandspolitik, Mieterschutz und kommunaler Wohnungsbau ineinander greifen und Verwertungskalküle substantiell eingeschränkt werden. Unsere Vorschläge zeigen: Eine soziale Wohnungspolitik ist möglich. Die Umsetzung einer anderen Wohnungspolitik kann nicht einzelnen Interessengruppen oder der Regierung überlassen werden. Wir rufen alle jene auf, die sich für eine soziale Stadtentwicklung Berlins verantwortlich fühlen, mit uns gemeinsam eine 100% soziale Wohnungspolitik zu entwickeln und umzusetzen.“
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